Trödeln am Morgen, bringt Kummer und Sorgen. Oder: The Slow and the Furious

Louisa Eberhard

Na, wer trödelt denn da?
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Probiers mal mit Gemütlichkeit – ein Satz, den viele Kids verinnerlicht haben und der Eltern regelmäßig in den Wahnsinn treibt. Christian Hanne verrät, was zu tun ist.

Wohl alle Eltern kennen folgendes Szenario: Sie wollen morgens dringend los, um pünktlich an der Arbeit zu erscheinen, aber Ihr Kind, das Sie vorher noch zur Schule bringen müssen, hat alle Zeit der Welt. Es denkt gar nicht daran, sich die Zähne zu putzen, sondern sortiert erst noch in aller Seelenruhe seine 138 Milliarden Pokémon-Karten nach Farbe, Verhalten und Aussehen. Obwohl es sonst problemlos den 4.000-teiligen Lego-Star-Wars-Todesstern mit verbundenen Augen zusammenbauen kann, ist es dann plötzlich motorisch nicht mehr in der Lage, sich seine Schuhe anzuziehen – wohlgemerkt, die mit den Klettverschlüssen. Beim Anziehen seiner Jacke bewegt sich das Kind schließlich in einem Tempo, gegen das südamerikanische Zweifinger-Faultiere als hektische, rastlose Zeitgenossen gelten können.

Wenn Sie sich hier Lösungen erhoffen, wie Ihre Kinder mit dem Trödeln aufhören, muss ich Sie leider enttäuschen. Daran lässt sich nichts ändern. Schon vor tausenden von Jahren haben Neandertaler-Kinder getrödelt, und in tausenden von Jahren, wenn sich die Menschen zu körperlosen Wesen weiterentwickelt haben, die nur über Gedanken kommunizieren, werden die körperlosen Kinder-Gedanken ebenfalls trödeln.

Sie können den Artikel aber trotzdem weiterlesen. (Falls Ihr Kind gerade mit den Hausaufgaben angefangen hat, bleibt Ihnen ohnehin genügend Zeit.) Ein paar Tipps habe ich nämlich doch, wie Sie die morgendliche Trödelei Ihres Kindes halbwegs entspannt überstehen und nicht jeden Morgen eine Mischung aus Tobsuchtsanfall und Nervenzusammenbruch erleiden müssen, weil Ihr Kind, statt seine Jacke anzuziehen, sich erstmal namentlich von seinen 127 Stofftieren und Puppen verabschiedet.

Don’t panic and carry on!

Kommt morgens allmählich der Moment des Aufbrechens, dürfen Sie unter keinen Umständen den Eindruck erwecken, es eilig zu haben. So wie Hunde Angst riechen können, spüren Kinder instinktiv, wenn Eltern dringend loswollen und verlangsamen sofort ihre Bewegungen auf eine Geschwindigkeit, die mit dem bloßen Auge nicht mehr wahrnehmbar ist. Sprechen Sie nun auf gar keinen Fall Worte wie „beeilen“, „spät dran“ oder „müssen jetzt los“ aus. Auf gar keinen Fall! Diese Formulierungen führen unweigerlich dazu, dass sich Ihr Kind automatisch in einen winterschlafähnlichen Stase-Zustand versetzt. Im Vergleich dazu sehen diese lebenden Statuen in Fußgängerzonen aus, als würden sie breakdancen. Rufen Sie dann auf der Arbeit an und kündigen Sie an, dass Sie sich ein wenig verspäten. Um circa vier Wochen.

Übrigens funktioniert es umgekehrt nicht, dass Ihr Kind sich in Normalgeschwindigkeit oder sogar Zeitraffer bewegt, wenn Sie scheinbar fröhlich „Lass‘ dir ruhig Zeit.“ flöten. So leicht sind Kinder nicht zu überlisten. Sie sind zwar klein, aber nicht dumm!

Der frühe Vogel ist auch nicht pünktlich, aber obendrein müde und gereizt

Möglicherweise schlägt Ihnen irgendein Schlaumeier aus Ihrem Bekanntenkreis vor, Sie könnten einfach eine halbe Stunde früher aufstehen. So hätten Sie morgens mehr Zeit und dann wäre es ja nicht schlimm, wenn das Kind ein klein bisschen trödelt. Eine vollkommen naive und weltfremde Idee, die nur von einer kinderlosen Person kommen kann. (Vor allem die Formulierung „ein klein bisschen trödelt“ deutet darauf hin.)

Auch wenn Sie ein paar Minuten durch das frühere Aufstehen gewinnen, müssen Sie Ihr Kind trotzdem irgendwann auffordern, sich anzuziehen, wodurch die Trödelspirale unweigerlich in Gang gesetzt wird. Im halbwegs ausgeschlafenen Zustand und an guten Tagen sind Sie möglicherweise in der Lage, die Situation einigermaßen zivilisiert zu managen und nur ganz selten in der Lautstärke eines Navy-Seals-Ausbilders durch die Wohnung zu brüllen. Sind alle Beteiligten wegen der fehlenden 30 Minuten Schlaf aber müde und gereizt, eskaliert die Situation wie bei einer unkontrollierten Kettenreaktion in einem Kernreaktor. Sollte Ihnen der Bekannte nun raten, Sie müssten doch abends nur eine halbe Stunde früher ins Bett gehen, dann wären morgens alle ausgeschlafen, brechen Sie unverzüglich den Kontakt ab.

Bin ja gleich so weit
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Trödeln produktiv nutzen: Getting shit done!

Da das morgendliche Trödeln von Kindern einem in der DNA angelegten Protokoll folgt, können Sie nichts daran ändern. Betrachten Sie – für Ihr eigenes Seelenheil – daher die kindliche Trödelei als Geschenk, als gewonnene Zeit. Anstatt neben Ihrem Kind zu stehen und mantraartig „Beeil dich“ zu wiederholen – was Sie ja ohnehin nicht tun sollten (siehe oben) –, erledigen Sie einfach ein paar Dinge, zu denen Sie sonst nicht kommen. Zum Beispiel alle Küchenschränke auswischen, das Gesamtwerk Thomas Manns lesen oder ein Medizin-Studium absolvieren und ein Heilmittel gegen Krebs entdecken.

Einfach mal an sich denken

Lassen Sie sich von der Trödelei Ihrer Kinder nicht stressen, sondern nutzen Sie diese für ein wenig Me-Time. Die kommt bei Eltern ja für gewöhnlich immer zu kurz. Machen Sie beispielsweise ein bisschen Yoga oder meditieren Sie. Oder Sie lassen sich ein Bad mit Lavendelduft ein, zünden ein paar Kerzen an und hören beruhigende Panflöten-Musik. Das ist doch viel angenehmer, als sich darüber aufzuregen, dass Ihr Kind gerade zum achten Mal hintereinander versucht, seinen linken Schuh an den rechten Fuß anzuziehen.

Allerdings darf Ihr Kind auf keinen Fall merken, dass Sie sich ein wenig Entspannung gönnen, sonst steht es innerhalb von 30 Sekunden neben der Badewanne und fragt: „Was machst du da?“ Wenigstens ist es dann aber aus seiner Winterschlaf-Stase erwacht und Sie können in den nächsten 90 bis 120 Minuten aufbrechen.

Hausaufgabenbetreuung like Buddha!

Kindliches Trödeln ist nicht auf den Morgen beschränkt, sondern kann jederzeit eintreten. Vor allem, wenn es um Hausaufgaben oder Lernen geht. Anstatt zügig zu Werke zu gehen, durchläuft das Kind dann erstmal die fünf Phasen der Trauer: Vom Leugnen („Wir haben heute nichts auf.“) über Zorn („Ich hasse die Schule, das interessiert doch keine Sau!“), Verhandeln („Fünf Minuten spiele ich noch und dann fange ich an. Ehrenwort!“) und Depression („Niemand bekommt mehr Hausaufgaben auf als ich!“) bis dann die Akzeptanz erreicht wird.

Akzeptanz bedeutet allerdings nicht, dass das Kind jetzt mit den Aufgaben anfängt, sondern es spitzt erstmal alle Stifte, schaut aus dem Fenster, holt sich etwas zu trinken, zählt die Kästchen in seinem Matheheft, holt sich noch etwas zu trinken, fragt im Klassen-Chat nach, was es überhaupt als Hausaufgaben auf hat, geht auf Toilette, baut einen Turm aus all seinen Schulbüchern und starrt 20 Minuten die Wand an. Wenn Sie nach zwei Stunden ins Kinderzimmer kommen und feststellen, dass Ihr Kind noch nicht einmal mit den Aufgaben angefangen hat, bekommen Sie an guten Tagen nervöses Augenzucken und an weniger guten verwandeln Sie sich in den großen und noch zornigeren Bruder von Hulk.

Nicht gerade die beste Reaktion, aber es ist nun mal den wenigsten Eltern gegeben, die Hausaufgaben-Trödelei ihrer Kinder gechillt wie ein buddhistischer Mönch zu ertragen. Zum Glück gibt es aber eine Lösung, denn wer ist tiefenentspannt wie ein buddhistischer Mönch? Genau: Buddhistische Mönche.

Daher – wie immer – mein Tipp: Engagieren Sie einen buddhistischen Mönch für die Hausaufgabenbetreuung. Die ganzen Verzögerungs- und Bummel-Taktiken können ihm nichts nichts anhaben, denn durch lebenslanges Meditieren und Mantra-Singen sind ihm Gefühle wie Ärger, Wut oder Zorn vollkommen fremd. Verspürt er doch mal so etwas wie einen Anflug von leichtem Unmut, atmet er ihn einfach weg.

Von Kindern lernen, heißt trödeln lernen

Möglicherweise sollten wir einfach unsere Einstellung zum Trödeln überdenken. Vielleicht muss Trödeln gar nichts Schlechtes sein, das uns Nerven kostet, sondern ist etwas Erstrebenswertes, so etwas wie die höchste Form des Müßiggangs. Daher sollten wir unseren Kindern das Trödeln nicht austreiben, sondern besser von ihnen lernen. Für sie gibt es kein Gestern und kein Morgen, sondern nur die Gegenwart. Sie leben immer im Moment und es zählt nur das Hier und Jetzt. Eine Erkenntnis für die andere Menschen viel Geld für Achtsamkeits-Coachings und Entschleunigungs-Ratgeber ausgeben müssen.

Auch sonst hat die Trödelei viele Vorteile. Wer trödelt, kennt keine Hektik, wer trödelt, hat keinen Stress, wer trödelt, bekommt keine Magengeschwüre, wer trödelt, erleidet kein Burn-out. Wir sollten alle mehr trödeln!

Zugegebenermaßen ist der Trödel-Lifestyle auf der Arbeit nicht ganz unproblematisch. Sie werden regelmäßig zu spät kommen, andauernd Termine versäumen und fast keine Deadline einhalten und irgendwann werden Sie dafür gefeuert. Das ist aber nicht weiter schlimm. Eröffnen Sie für Ihr Kind den YouTube-Kanal „Die Kunst des Trödelns“, wo Sie Videos veröffentlichen, auf denen zu sehen ist, wie das Kind einer Schnecke bei der Fortbewegung zuschaut oder im Badezimmer, statt sich die Zähne zu putzen, mit der Zahnbürste lustige Muster auf den Spiegel spritzt. Mit den Werbeeinnahmen werden Sie Millionär und dann können Sie und Ihr Kind so viel trödeln, wie sie wollen.

Über den Autor

Christian Hanne, Jahrgang 1975, ist im Westerwald aufgewachsen und hat als Kind zu viel von Ephraim Kishon gelesen und zu viel „Nackte Kanone“ geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und ihren beiden Kindern in Berlin-Moabit. Auf seinem Blog „Familienbetrieb“, auf Twitter und Facebook schreibt er über den ganz normalen Alltagswahnsinn. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.

Am 18. September erscheint sein neues Buch „Papa braucht ein Fläschchen. Überlebenstipps für das erste Jahr mit Kind“ bei arsEdition.

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Louisa Eberhard

Louisa Eberhard kommt aus Berlin und studiert nun in Hamburg Sozialwissenschaften. Sie beschäftigt sich vorrangig mit den Themen Erziehung, Bildungswesen und Familienalltag.